Ein intensiver Blick in den Spiegel beantwortet uns so manche Frage, bevor sie sich überhaupt stellt. Jan Mathes (*1962), freischaffender Schriftsteller und Lebenskünstler
Spiegel können in verschiedenster Weise auftreten und dir zu erkennen geben, was es gerade an Veränderung braucht. So können dir beispielsweise Menschen anhand ihres Verhaltens unbewusst Dinge verdeutlichen, die du bisher nicht „gesehen“ hast.
Häufig sind es jedoch gerade die eigenen Muster und Gewohnheiten, an denen man besonders festhält und für welche man besonders blind ist. In meinem Fall brauchte es einen anderen Impuls, der es mir unmöglich machte wegzuschauen.
Es begann ganz harmlos im Januar 2019. Im Rahmen einer Weiterbildung stellte der Zen-Meister Alexander Poraj seine Charakerlehre vor. Darin beschreibt er drei Persönlichkeitstypen: den Aktiven, den Vorsichtigen und den Hedonisten. Jeder dieser drei Typen hat seine ganz persönlichen Stärken und Schwächen und gemeinsam erarbeiteten wir im Workshop die typischen Missverständnisse, die als Folge in der zwischenmenschlichen Kommuniktation auftreten können.
Ein sehr schlüssiges Konzept, von dem ich dir ein anderes Mal gerne noch mehr erzähle. Also kaufte ich mir direkt in Anschluss sein Buch „Im Hier und Jetzt“, um mich tiefer in das Thema einzulesen. Anhand der detaillierten Beschreibung der jeweiligen Sonnen- und Schattenseiten geht Alexander Poraj auf die drei Charaktere ein und zeigt auf, welche Rolle Achtsamkeit dabei spielt.
Ich kuschelte mich gemütlich in meinen Hängesessel und blickte beim Lesen so direkt in meinen Spiegel, dass ich das Buch nicht mehr aus den Händen legen konnte. So sehr ging mir das Thema unter die Haut. Seite für Seite erkannte ich mich im „Aktiven“ Charakter-Typen wieder, mit all den Gewohnheiten und Muster, die darunter lagen. Nur waren diese zum damaligen Zeitpunkt so unreflektiert, dass ich es in meiner „Getriebenheit“ nicht erkannt hatte und vielleicht auch nicht sehen wollte.
All meine Aktivitäten hatten so viel Verdrängungscharakter, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis ich in einem Burn-Out landen würde. Wäre auch kein Wunder gewesen. Denn über mehrere Jahre jonglierte ich Job, Familie und Haushalt mit unzähligen Näh- und Gartenprojekten für den DIY-Blog „Selbermachen macht glücklich“. Und in diese kreativen „Nebentätigkeit“ steckte ich so viel Leidenschaft, Energie und Zeit, dass das alleine schon für eine Fulltime-Job gereicht hätte.
Beim Lesen wurde mir auch schlagartig bewusst, dass es garnicht ums Nähen, Gärtnern und Bloggen ging. Sondern viel mehr darum ständig etwas „leisten“ zu müssen, um etwas wert zu sein. Eine toxische Stress-Falle, die sich geschickt unter den kreativen Flow-Momenten versteckte. Denn jedes abgeschlossende Projekt hinterlies eine Leere, die umgehend wieder gefüllt werden musste.
Mit dieser erschreckenden Erkenntnis wurde mir auch klar, dass es eine tiefgehende Veränderung braucht und ich dabei keinen Kompromiss finden werde. Ich brauchte ein komplettes Heraustreten aus meiner Dauerbeschäftigung, um mich mit dem darunterliegenden Leistungsthema und meinem Selbstwert auseinanderzusetzen. Und so beendete ich all meine „Nebentätigkeiten“ auf einen Schlag.
Dabei war mir noch nicht bewusst, welche Funktion diese hatten. Denn mit dem Ende der kreativen Beschäftigung verschwanden auch die Flow-Momente, die meine Gehirn regelmäßig mit Dopamin versorgt hatten. Eine Form der Sucht, die ich über mehrere Jahre sehr aktiv bedient hatte und die mich regelrecht auf Entzug setzte.
Nun war die Hängematte nicht mehr der gemütliche Platz zum Reinkuscheln und Lesen, sondern der Zufluchtsort meiner tiefen Antriebslosigkeit. So ohne jegliche Ablenkung trat all die Erschöpfung zum Vorschein, die sich in meinem System über die Jahre aufgebaut hatte. Und gleichzeitig spürte ich tief in mir drin, dass es die einzige Möglichkeit darstellte, um meine Muster zu verändern.
Jetzt, 3 1/2 Jahre später, betrachte ich diese und viele darauf folgende Entscheidungen als meinen vertvollsten Schatz. Erfahrungen, die ich auf keinen Fall missen möchte. Sie haben mir gezeigt, dass tiefgehende Veränderungen möglich sind und dass Achtsamkeit der Schlüssel dazu ist. Denn im Wahrnehmen und der Akzeptanz von dem „wie es ist“ steckt Leichtigkeit und Lebensfreude, sowie die Möglichkeit Ängste und alte Glaubssätze aufzulösen. Weil man erkennt, dass es nicht darum geht etwas zu leisten, sondern um das einfache Sein mit allem was dazu gehört.
Und durch meine eigenen Erfahrungen – den Blick in den Spiegel – habe ich die tiefste Überzeugung, dass diese Möglichkeiten in uns allen stecken. Mehr oder weniger verborgen und vielleicht auch mehr oder weniger zugänglich und schmerzhaft. Aber unweigerlich da. Dieses Wissen wuchs über die Jahre, verstärkte sich in meinen Weiterbildungen und schafft die Grundlage für meine Tätigkeit als MBSR-Lehrerin und Coach. Und dafür bin ich unglaublich dankbar!
Wer achtsam ist, ist aufmerksam. Dr. Alexander Poraj, Zen-Meister
Ovid (43 v. Chr. - 17 n. Chr.), römischer Epiker